14. September 2021
Life ScienceEntrepreneurshipAngebotInterviewIm Jahr 2018 gründete der Göttinger Pharma- und Laborzulieferer Sartorius in der altehrwürdigen Universitätsstadt die Life Science Factory. Damit sollen Firmenneugründungen gefördert und Gründer aus den Lebenswissenschaften unterstützt werden. In den Räumen der Life Science Factory trafen sich Vertreter der Branche zum alljährlichen Biotechnologie-Roundtable der Plattform Life Sciences. Zentrale Frage in diesem Jahr: Was braucht es, um ein erfolgreiches Life-Sciences-Ökosystem zu installieren?
Ein Roundtable mit Dr. Alexander Wiegelmann, KWS, Dr. Merle Fuchs, Pramo Molecular, Melanie Albrecht, NBank, Barbara Diehl, Bundesagentur für Sprunginnovationen, Magdalena Kempa, Blue Ribbon Partners, Dr. Jens Gruber, Curexsys, Irina Reimer, Life Science Factory Göttingen, Prof. Dr. Wolfgang Brück, Universitätsmedizin Göttingen sowie Dr. Angelika Vlachou, High-Tech Gründerfonds Management, und Svenja Hodel, Life Science Factory Göttingen.
Plattform Life Sciences: Betrachten wir zu Beginn das Start-up-Ökosystem „Göttingen“. Was hat hier bisher gefehlt und was braucht es noch, um den Life-Sciences-Standort entscheidend voranzubringen?
Gruber: Eine Einrichtung wie die Life Science Factory bietet uns beispielsweise die Möglichkeit, wichtige wissenschaftliche Experimente durchführen, ohne dass wir dafür eine eigene aufwendige und kostspielige Ausrüstung anschaffen müssen. Dies ist existenziell wichtig für eine Unternehmensgründung. Daher betrachte ich die Life Science Factory auch als eine großartige Initiative. Doch der wichtigste Schritt kommt erst danach: Wie können wir eine Good Manufacturing Practice garantieren? Woher bekommen wir dauerhaft nutzbare Laborflächen? Wie steht es mit Expansionsflächen? Zwei Jahre in der Life Science Factory sind eine gute Option – doch was kommt danach?
Andererseits ist die Expansion der zweite Schritt. Am Anfang steht doch die Notwendigkeit eines Gründerzentrums.
Gruber: Absolut! Wir benötigen zunächst eine moderne Infrastruktur, die man gemeinsam nutzen kann. Selten braucht man gleich zu Beginn eigene Geräte. Im zweiten Schritt geht es mir auch gar nicht so sehr um die klassische Expansion, sondern vielmehr um die Bestätigung des Geschäftsmodells. Als Unternehmen muss ich nicht unendlich wachsen. Einen Großteil der Arbeit kann man outsourcen. Trotzdem braucht es einen eigenen Bereich, in dem ich unabhängig agieren kann, auch innerhalb Göttingens.
Wie haben sich Gründer in Göttingen bislang verhalten?
Brück: Generell gibt es in Göttingen viele Anlaufstellen für Gründer. Diese scheinbar ungebündelte Masse von Anlaufstellen kann potenzielle Gründer jedoch verwirren. Ein zweites Hindernis besteht meiner Ansicht nach in der verbreiteten Annahme, dass Forscher automatisch auch Gründer sein müssen. Für beide Eigenschaften braucht es jedoch einen unterschiedlichen Mindset. Der Standort Göttingen ist bekannt für seine Wissenschaft. Im universitären System werden Publikationen und Drittmittelprojekte honoriert – es wird aber niemand honoriert, der ein Patent anmeldet oder eine Firma ausgründet. Hier brauchen wir eine andere Sichtweise. Und schließlich hängt es auch immer mit den handelnden Personen selbst zusammen, wann welche Initiative erfolgreich vorangetrieben wird oder nicht. Wir fragen uns: Welche Strukturen müssen wir schaffen, es den Wissenschaftlern zu erleichtern, in die Gründung zu gehen und Ideen auch in Richtung Produkt und Vermarktung zu setzen? Hier müssen wir die entsprechende Infrastruktur schaffen, und da ist die Life Science Factory ein wichtiger Baustein. Zudem wollen die Universitätsmedizin Göttingen, die Medizinische Hochschule Hannover und das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig hier künftig enger zusammenarbeiten. Dazu wollen diese drei Institutionen ein Institut für Biomedical Innovations gründen, das durch die Landesregierung, und hier ist das MWK führend, signifikant finanziell unterstützt wird. Hier sollen entsprechende Strukturen, etwa von Accelatoren und Inkubatoren, geschaffen werden. Der Aufbau des Life Science Valley ist der nächste Schritt. Damit wird eine zentrale Anlaufstelle für Life-Sciences-Gründungen in Göttingen geschaffen. Dazu gehört auch ein Screening der einzelnen Arbeitsgruppen in der medizinischen Fakultät, um potenzielle Gründungsprojekte zu identifizieren.
Wie ist das als Gründer, wenn einerseits zahlreiche Anlaufstellen für Gründungsprojekte existieren, andererseits aber der Überblick fehlt? Wo bekommt ein Gründer tatsächlich die passende Unterstützung?
Fuchs: Für uns als Biopharma-Start-up ist Geschwindigkeit das A und O. Geld ist extrem knapp. Das heißt, wir benötigen eine gezielte Unterstützung von den richtigen Leuten, die uns Gründern quasi den roten Teppich ausrollen. Dazu brauchen wir nicht nur die richtigen Kontakte, sondern auch eine fertige Laborinfrastruktur. Wir haben keine sechs Monate Zeit, ein eigenes Labor aufzubauen. Wir sind gezwungen, fünf Jahre im Voraus zu planen. Bei der Standortsuche schauen wir nicht nur auf die aktuelle Infrastruktur, sondern auch darauf, wie sie in zwei oder fünf Jahren aussehen wird. Da spielen auch die regionalen, professionellen Netzwerke eine wichtige Rolle. Pramo Molecular ist in der Onkologie aktiv. Da gibt es für uns mit Heidelberg und vor allem mit München zwei sehr attraktive Standorte, neben Göttingen. Göttingen bietet uns, Stand heute, einen guten Inkubator. Aber wenn die Entwicklung hier am Standort nicht weitergeht, dann werden wir quasi ausgebrütet und müssen dann dorthin gehen, wo die Branchen- und Investorennetzwerke deutlich ausgeprägter sind.
Es spielen also zahlreiche Faktoren eine Rolle. Göttingen ist zwar ein wichtiger Wissenschaftsstandort, als Gründerzentrum aber noch nicht als Nabel der Welt bekannt. Wie baut man da ein Konzept, welches auch die weiteren Zwiebelringe außerhalb des klassischen Gründerzentrums umfasst?
Kempa: Zu Beginn haben wir vergleichende Analysen erstellt, etwa mit Gründerzentren in den USA, und die Frage behandelt: Was braucht ein Life-Sciences-Ökosystem, um wirklich erfolgreich zu sein? Da ist zunächst die exzellente Wissenschaft, nach der auch Investoren fragen. Weiterhin braucht es Zugang zu Kapital, eine nötige Infrastruktur und ein Team, welches den Gründungsgedanken wirklich vorantreibt. Gemeint sind damit entweder Forscher, die wirklich bereit sind, in die Gründung zu gehen, oder Seriengründer, die bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt haben. Klar ist: Eine Gründung ist ein Vollzeitjob. Es braucht aber nicht nur den Entrepreneur-Mindset, sondern auch die Möglichkeit zur frühzeitigen Verpartnerung. Gerade im Life-Sciences-Bereich mit seinen komplexen Technologien hat sich gezeigt, dass die Chancen auf einen höheren Exit oder eine erfolgreiche Akquisition doppelt so hoch sind, wenn sich Start-ups frühzeitig verpartnern, sei es mit Investoren, strategischen Partnern aus Biotech oder Pharma oder im Rahmen von Lizenzdeals. Und schließlich, bei aller Standortdebatte: Biotech ist immer international. Diese Frage bestimmt das Denken und Handeln vom ersten Tag an: Wo sind meine Märkte? Wer sind meine Konkurrenten? Wo bekomme ich Kapital? Wo bekomme ich das beste Team? Wer hilft mir, einen Lizenzvertrag aufzusetzen? Zusammengefasst also: Wo sind die besten Experten, die mir bei all diesen Fragen helfen können? Ein gutes Gründerzentrum muss allen Bedürfnissen der Gründer gerecht werden, es muss schnell gehen, die Experten müssen vorhanden sein und es muss von Beginn an international gedacht und gehandelt werden.
Gruber: Man bräuchte im Endeffekt auch einen Hub für Rechtsberatung, für Business Development oder für Buchhaltung und Steuerrecht.
Frau Diehl, ist das eine typisch deutsche Diskussion, dass Entrepreneure besser auch in jenen Fragen ausgebildet sein müssten, die nichts mit der reinen Wissenschaft zu tun haben?
Diehl: Die Business School in Oxford existiert seit 1996. Damals gab es durchaus Diskussionen über die Notwendigkeit von Ausgründungen aus der Wissenschaft. Es gab Forscher, die nie im Leben daran gedacht hätten, ein eigenes Unternehmen zu gründen, und solche, die sich mit dieser Idee durchaus anfreunden konnten. Vonseiten der Universität gab es in dieser Hinsicht wenig Initiative. Gleichzeitig wurde eine Business School aber akzeptiert, weil sie durch externe Geldgeber maßgeblich finanziert wurde. Letztlich haben wir mit den Leuten gearbeitet, die den Weg zu uns gefunden haben. Persönlich finde ich es aber schwierig, zu sagen: „Der kann gründen und der nicht.“ Gründen ist eine Reise, man lernt es einfach. Mag sein, dass manche Menschen von vornherein in einem unternehmerischen Umfeld aufwachsen, aber letztlich muss man es ausprobieren. Man kann Fehler machen, wieder aufstehen und weitergehen. Dieser Gedanke ist allerdings längst nicht in alle Bereiche der Wissenschaft vorgedrungen. Beispielsweise wurden 2019 aus der gesamten Helmholtz-Gesellschaft gerade einmal sieben Gründungsvorhaben für das interne Programm „Helmholtz Enterprise“ eingereicht – und das für die größte außeruniversitäre Wissenschaftseinrichtung in Deutschland. Woran liegt das? Aus meiner Sicht stellen viele Gründungsförderungsinitiativen sehr hohe Anforderungen an potenzielle Gründer, die zu Beginn der Reise einfach noch eine zu hohe persönliche und professionelle Hürde darstellen. Stattdessen sollte man dafür sorgen, dass gründungswillige Wissenschaftler mehr Möglichkeiten haben, mit dem Thema Gründung zu experimentieren und damit warm zu werden.
Wäre es aus der Sicht des High-Tech Gründerfonds nicht auch besser, man ließe die Gründer sich nur um ihre Innovationen kümmern und die ganzen administrativen Aufgaben von einer zentralen Stelle miterledigen?
Vlachou: Es gibt bei uns zwar keine zentrale Stelle, die etwa Buchhaltung oder andere Dienstleistungen für Neugründungen organisiert. Doch insbesondere Teams in der Gründungs- oder Vorgründungsphase können wir üblicherweise Experten zur Seite stellen, die solche Themen übernehmen. Das funktioniert sehr gut. Und die Unternehmen können sich auf das konzentrieren, was sie wirklich können, nämlich ihre Innovation weiter ausbauen, damit daraus irgendwann eine medizinische Anwendung oder ein Produkt werden kann. Dann wird die Buchhaltung eben von einer externen Stelle übernommen, die gleichzeitig auch die Buchhaltung für 20 weitere Unternehmen erledigt. Solche externen Supporter müssen auch nicht am selben Ort sitzen. Es gibt Spezialisten, Buchhalter oder Steuerberater, die wissen, was ein Lizenzvertrag ist, und die den Unterschied zwischen Herstellungs- und Forschungskosten kennen. An dieser Stelle ist es wichtig, dass sich junge Unternehmen an ihre (Seed-)Investoren wenden und sich erkundigen, wo und wie sie Unterstützung in Anspruch nehmen können.
Braucht man eine Life Science Factory also, um eine Anlaufstelle für solche Problematiken zu installieren? Vor allem: Braucht es solche Experten direkt in einem Gründungszentrum?
Fuchs: Solche Experten braucht es nicht direkt in einer Life Science Factory. Sie müssen in der Tat nicht am selben Ort sein. Wichtig für uns ist, dass wir kein Geld und keine Zeit investieren, um uns selbst dieses spezielle Wissen anzueignen. Besser ist, Geld auszugeben, um die besten Leute einzukaufen, die uns diese zusätzliche Arbeit abnehmen können – denn für uns in der Branche zählen vor allem Geschwindigkeit und Professionalität. Wir haben gar keine Zeit, uns in diese Lernkurve zu begeben. Und genau diese Denkweise muss die Life Science Factory weitergeben. Der Unternehmer muss darauf bestehen, Zugang zu solchen Dienstleistern zu bekommen, und er muss darauf achten, stets genügend Geld zur Verfügung zu haben, um diese Experten auch bezahlen zu können.
Besteht eine Diskrepanz zwischen dem Wissenschaftler, der weiterforschen will, und der Person, die ein Produkt nach vorne bringen muss?
Gruber: Ich bin quasi im Max-Planck-Institut sozialisiert worden, dort sieht man die Kommerzialisierung der Biotechnologie zuweilen sehr differenziert. Insofern ist es schwierig, sich unter Wissenschaftlern nach Chancen und Herausforderungen des Unternehmertums zu erkundigen. Man muss häufig schon selbst darauf kommen. Letztlich muss man sich die Expertise, die nichts mit der reinen Technologie zu tun hat, von außen hereinholen. Wir haben uns diese Experten organisiert, aber diese sind über ganz Deutschland verteilt, und das ist in dieser Form auch gar kein Problem.
Aber wird vor diesem Hintergrund nicht die reine Standortdebatte überflüssig, weil es gar nicht entscheidend ist, von wo aus man arbeitet?
Gruber: Nein, denn an einem bestimmten Ort muss die Keimzelle liegen, wo dann auch die Innovation, die wir verkaufen wollen, tatsächlich passiert. Und dieser Ort muss gut strukturiert sein, so wie Göttingen, wo es einen hervorragenden Impuls gibt, aus der Universität und der Wissenschaft.
Herr Brück, spüren Sie bereits einen regen Zulauf aus den Laboren, weil Sie nun in der Praxis die Ausgründungen aus der Wissenschaft mehr denn je unterstützen?
Brück: Zugegebenermaßen sind Gründungen aus der Wissenschaft immer noch ein wenig verpönt. In Israel herrscht beispielsweise in dieser Hinsicht ein ganz anderes Mindset: Dort ist es sehr angesehen, wenn ein Professor zwei bis drei Unternehmen gegründet hat. Diesen Mindset müssen wir auch hier einführen, denn ich glaube, wenn man durch die Labore geht, entdeckt man etliche Potenziale. Man muss diese nur herauskitzeln aus den Laboren. Es gibt ja Ideen, Wissenschaftler mit den richtigen Leuten in Kontakt zu bringen, welche die Innovationen und Ausgründungen weiter vorantreiben, um medizinische Lösungen schnellstmöglich zum Patienten zu bringen.
Frau Albrecht, mit der NBank sind Sie in ganz Niedersachsen unterwegs. Wie ist Ihr Eindruck vom Standort Göttingen und darüber hinaus von der Zusammenarbeit der niedersächsischen Standorte untereinander?
Albrecht: Mein Eindruck ist, dass hier ein Wandel stattfindet. In der Vergangenheit waren die drei wesentlichen Life-Sciences-Standorte Hannover, Braunschweig und Göttingen keine großen Vorreiter in der Zusammenarbeit. Inzwischen gibt es aber Aktionen, die Zusammenarbeit auszuweiten und zu vertiefen. Wie bereits genannt wurde, hängt vieles von einzelnen Personen ab, die nun die Verantwortung übernehmen, um Ausgründungen voranzutreiben. Letztlich profitiert ja auch die Life Science Factory von den Initiativen der Landespolitik, die Biotechnologie in der Region Niedersachsen zu fördern. Ich bin zuversichtlich, dass das verstärkte Engagement einzelner Firmen vor Ort und die Zusammenarbeit von Entscheidern bewirken werden, dass die Branche in Niedersachsen künftig stärker gemeinsam auftreten wird.
Wie sinnvoll wäre ein innerniedersächsischer Standortwettbewerb?
Albrecht: Man darf nicht vergessen, dass jeder Standort eigene Schwerpunkte setzt. Von daher stellt sich die Frage: Wie sinnvoll wäre ein Wettbewerb tatsächlich? Diese Unterschiede betreffen nicht nur Forschungsschwerpunkte, sondern auch die Infrastruktur. Insofern muss man aus meiner Sicht keinen besonderen Wettbewerb ausrufen. Im Gegenteil, eine gezielte Zusammenarbeit der Akteure ist wesentlich vielversprechender.
Fuchs: Ich war in der Vergangenheit stark im mitteldeutschen Raum engagiert und ich kann von Wettbewerben innerhalb eines Bundeslandes nur abraten. Abgesehen von München ist in Deutschland kaum ein Life-Sciences-Standort so stark, dass er international allein bestehen könnte.
Wiegelmann: Ein Wettbewerb kann durchaus sinnvoll sein, aus meiner Sicht fehlt es aber an einem Key Performance Indicator (KPI) für Start-ups. Damit meine ich Leistungskennzahlen, an denen der Erfolg eines Start-ups gemessen werden kann. Welches Start-up konnte sich wo erfolgreich etablieren? Wie haben sie sich entwickelt und welche Qualität haben sie erreicht? Das Ziel an einem Standort in Göttingen sollte nicht die Massenproduktion von Start-ups sein, sondern die Produktion von hochqualitativen Start-ups. Es gibt immer noch zu viele prohibitive Faktoren für junge Start-ups, etwa hohe Kosten im Bereich Techtransfer, die erfolgreiche Ausgründungen verhindern. Ein Unternehmen wie die KWS nimmt Ausgründungen quasi entlang der gesamten Wertschöpfungskette an die Hand, sei es beim Steuerberater, bei der Aushandlung von IP-Lizenzverträgen oder beim Techtransfer. Wenn man diese Wertschöpfungskette erfolgreich am Standort etabliert, dann kann man sich auch ohne Bedenken in einem Standortwettbewerb stellen.
Wie sinnvoll wäre ein innerniedersächsischer Standortwettbewerb?
Albrecht: Man darf nicht vergessen, dass jeder Standort eigene Schwerpunkte setzt. Von daher stellt sich die Frage: Wie sinnvoll wäre ein Wettbewerb tatsächlich? Diese Unterschiede betreffen nicht nur Forschungsschwerpunkte, sondern auch die Infrastruktur. Insofern muss man aus meiner Sicht keinen besonderen Wettbewerb ausrufen. Im Gegenteil, eine gezielte Zusammenarbeit der Akteure ist wesentlich vielversprechender.
Fuchs: Ich war in der Vergangenheit stark im mitteldeutschen Raum engagiert und ich kann von Wettbewerben innerhalb eines Bundeslandes nur abraten. Abgesehen von München ist in Deutschland kaum ein Life-Sciences-Standort so stark, dass er international allein bestehen könnte.
Wiegelmann: Ein Wettbewerb kann durchaus sinnvoll sein, aus meiner Sicht fehlt es aber an einem Key Performance Indicator (KPI) für Start-ups. Damit meine ich Leistungskennzahlen, an denen der Erfolg eines Start-ups gemessen werden kann. Welches Start-up konnte sich wo erfolgreich etablieren? Wie haben sie sich entwickelt und welche Qualität haben sie erreicht? Das Ziel an einem Standort in Göttingen sollte nicht die Massenproduktion von Start-ups sein, sondern die Produktion von hochqualitativen Start-ups. Es gibt immer noch zu viele prohibitive Faktoren für junge Start-ups, etwa hohe Kosten im Bereich Techtransfer, die erfolgreiche Ausgründungen verhindern. Ein Unternehmen wie die KWS nimmt Ausgründungen quasi entlang der gesamten Wertschöpfungskette an die Hand, sei es beim Steuerberater, bei der Aushandlung von IP-Lizenzverträgen oder beim Techtransfer. Wenn man diese Wertschöpfungskette erfolgreich am Standort etabliert, dann kann man sich auch ohne Bedenken in einem Standortwettbewerb stellen.
Ist nicht die Definition von „Erfolg“ auch eine Hürde im Standortwettbewerb? Wenn deutsche Start-ups in die USA verkauft werden, stellt sich dann nicht schließlich die Frage nach dem Verbleib deutscher Steuergelder?
Vlachou: Das ist das obere Ende des Erfolgs eines Start-ups, wenn es erfolgreich ins Ausland verkauft wird. Erfolg ist aber auch, wenn externes privates Geld für das erfolgreiche Wachstum eines Start-ups angelockt werden kann. Gegenwärtig hat der High-Tech Gründerfonds (HTGF) rund 900 Mio. EUR under Management. Die vom HTGF finanzierten Start-ups haben insgesamt mehr als 3 Mrd. EUR von Dritten eingeworben, rund 40% dieser Finanzmittel kommen aus dem Ausland. Jeder Euro an Steuergeld hat also weiteres privates Kapital angelockt – und dieses Geld wird ausgegeben, nicht zuletzt auch für Arbeitsplätze. Natürlich ist die deutsche Biotechszene im Vergleich zu den USA weniger stark entwickelt. Umso wichtiger ist die Verpartnerung der Unternehmen. Selbst eine BioNTech, die sehr gut finanziert war, hat sich für die Entwicklung und Kommerzialisierung ihres Coronaimpfstoffs verpartnert. Wir müssen uns nicht vorwerfen lassen, dass deutsche Unternehmen von US-Firmen aufgekauft werden, denn die Messparameter auf dem Weg dahin sind grundverschieden. Viele Gründer, die verkauft haben oder nicht ganz so erfolgreich waren, gründen anschließend wieder neu. Das ist ein Lebenszyklus, den man als erfolgreich bezeichnen kann.
Diehl: In der Politik besteht immer noch eine vorherrschende Meinung, dass jedes Start-up eine neue „Siemens“ wird und Zehntausende von Arbeitsplätzen schafft. Der typische Lebenszyklus eines Start-ups ist in den Köpfen vieler politischer Entscheidungsträger nicht vorhanden. Neun von zehn Start-ups werden nun einmal an bestehende Unternehmen verkauft. Bei der Bundesagentur für Sprunginnovationen ist man häufig mit der Frage konfrontiert: „Wie kann man die Wertschöpfung in Deutschland behalten?“ Wir bewegen uns da gegenwärtig in einer schwierigen politischen Gemengelage, wo vieles, was etwa aus China oder den USA kommt, sehr kritisch gesehen wird, sei es Kapital, seien es Technologien, seien es Zuwanderer.
Wie sehr ist es von Vorteil oder Nachteil, wenn man sich als Inkubator oder Standort in die Zusammenarbeit mit einem regionalen Corporate wie Sartorius begibt, die ja für die Einrichtung der Göttinger Life Science Factory verantwortlich zeichnet?
Reimer: In unserem Fall erweist sich das auf jeden Fall als Vorteil. Als Institution und mit unserem Team sind wir bei der Life Science Factory vom Programm und den Strukturen her sehr nah an den Bedürfnissen unserer Start-ups. Gleichzeitig können wir aber bei Bedarf auf die Ressourcen und das Know-how eines Unternehmens wie Sartorius zurückgreifen. Letztlich sind wir als Inkubator selbst ein Start-up. Gleichzeitig besitzen wir aber den Rückhalt eines etablierten Unternehmens und eine langfristige Perspektive. In jedem Fall aber ist die Life Science Factory eigenständig. Die Stärkung des Standorts steht immer im Vordergrund. Das ist auch wichtig den Gründungsteams gegenüber zu kommunizieren, dass sie sich, anders als bei klassischen Corporate-Inkubatoren, mit einem Einzug in die Life Science Factory nicht in die Abhängigkeit eines Unternehmens begeben.
Fuchs: Wir brauchen Investoren in der Biotechnologie, die langfristig investieren können und wollen und im Idealfall nicht nur auf den schnellen Return of Investment schauen. Daher ist das langfristig angelegte Engagement von Sartorius, um den Standort und die Branche voranzubringen, hervorragend.
Gruber: Aus meiner Erfahrung haben wir mit Sartorius ein Unternehmen gefunden, welches nicht nur finanzielle Unterstützung gibt, sondern auch technologisch unterstützt. So entsteht eine langfristige Basis, von der wir profitieren können. Ähnlich verhält es sich mit Evotec auf der analytischen Seite.
Wo sieht sich KWS an dieser Stelle? Wie regional denkt so ein Unternehmen?
Wiegelmann: Die Welt des Saatguts ist global. Natürlich gibt es einige Zentren, aber es ist vor allem, bei aller Wirtschaftlichkeit, auch eine ideelle Komponente. KWS stärkt neben seiner Rolle als bedeutender Arbeitgeber durch diverse Beiträge – von der Lehrstuhl- bis zur Kulturfinanzierung – die regionale Attraktivität. Auf der technologischen Ebene ist uns der Proof of Concept wichtig. Wir ziehen uns Start-ups heran und nehmen eine Evaluierung der Technologie vor. Wir schließen auch Lizenzverträge ab oder organisieren ein Mentoring. Mit unserem Beteiligungskapital investieren wir in Seed- bis Series-A-Finanzierungen. Hier am Standort Göttingen sehen wir uns durch die Unterstützung der Life Science Valley Initiative vor allem als Enabler.
Wie biotechaffin ist die NBank? Welches Gewicht haben die Life Sciences in Ihrem Portfolio?
Albrecht: Wir sind branchenoffen. Es gibt keine Unterteilung in unseren Fonds, nach denen wir bestimmte Summen in einzelne Branchen investieren müssen. Gegenwärtig haben wir rund 100 Mio. EUR in Management. Seitens der niedersächsischen Politik steht sicher die Transformation der Automobilindustrie an vorderster Stelle. Hier mag es künftig einen gewissen Fokus geben. Als NBank sind wir kein Investor, der ein Biotechunternehmen langfristig in der Wachstumsphase unterstützen kann, sondern eher in der frühen Phase. Auch in der frühen Phase investieren wir gerne gemeinsam mit anderen Investoren.
Muss sich das Zusammenspiel der einzelnen Player am Standort erst noch etablieren?
Kempa: Ein Erfolgsfaktor ist natürlich der Zugang zu Kapital. Auch wenn wir am Standort Göttingen einige gute Gründerteams etablieren können, wird es seine Zeit dauern, bis der Standort auf dem Zielradar der Investoren fest installiert ist. Die erste Frage beschäftigt sich mit der Anschubfinanzierung, etwa durch den HTGF. Wie schafft man es weiterhin, eine hohe Dichte an Teams zu installieren, die auch andere Gründer von außerhalb anziehen wird? Das Wichtigste ist, dass sich Göttingen mit einem klaren wissenschaftlichen Fokus neben anderen Standorten wie München oder Heidelberg etablieren kann, um sich auch international für andere Wissenschaftler, Gründer und Teams interessant zu machen. Schlussendlich muss man aber leider sagen, dass das notwendige Kapital in Deutschland nicht vorhanden ist. Das große Geld wird eben woanders verteilt.
Diehl: Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass sich trotz aller Inputs kurzfristig der große Erfolg einstellen wird. Man muss realistisch akzeptieren, dass es zehn bis 15 Jahre dauern kann, bis die ersten Erfolgsgeschichten geschrieben werden. So wird es einfach Zeit brauchen, bis sich der Humus ansetzen wird, der dieses Ökosystem trägt. Der Faktor Zeit wird unterschätzt, vor allem vonseiten der Politik, die das Geld einsetzt und damit einen schnellen Erfolg erzielen will. Gleichzeitig bestehen aber hohe Bürokratiehürden, die das ganze System extrem verlangsamen. Letztlich muss auch den politischen Entscheidern klar sein: Ja, es können auch 30 Mio. EUR an Steuergeldern verloren gehen, wenn ein Projekt scheitert – aber wenn wir es nicht versuchen, haben wir auch verloren. Mich stimmt nachdenklich, dass die Agentur für Sprunginnovation mit einem Budget von 1 Mrd. EUR ausgestattet ist – für zehn Jahre. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt hat ein jährliches Budget von 360 Mrd. EUR. Das bedeutet, wir sind eine Nachkommastelle im Gesamtetat. Wenn man es sich nicht leisten kann, mit einem so vergleichsweise geringen Betrag experimentell umgehen zu können, weiß ich auch nicht weiter.
Brauchen Start-ups aus Sicht der Investoren vielleicht einen Türöffner, der das Zusammenspiel zwischen Unternehmen und Geldgebern unterstützt?
Albrecht: Es ist natürlich immer ein Vorteil, wenn Start-ups über eine Empfehlung an uns herantreten, sei es über erfahrene Gründer und Unternehmer oder über etablierte Netzwerke. Es ist wichtig, solche Netzwerke zu unterhalten und weiter voranzutreiben, auch zwischen den Investoren. Erfolgsgeschichten entstehen häufig über persönliche Kontakte. Da wir keinen bestimmten Branchenfokus haben, unterhalten wir selbst kein aktives Screening oder beschäftigen spezielle Analysten für die Branchen, in die wir investieren. Hier holen wir uns bei Bedarf externe Expertisen ein.
Was sind gute Empfehlungen, um ein Gründerzentrum wie die Life Science Factory möglichst schnell zu füllen?
Fuchs: Die Wissenschaft in Göttingen ist exzellent. Auch ein ICE-Anschluss, so profan es klingt, ist sehr wichtig. Für uns als ganz junges Start-up bietet die Life Science Factory den großen Vorteil, dass sie ihren Mietern sehr viel bietet für überschaubares Geld. Das fängt schon bei einem einfachen Support wie der Spülküche an. Sehr gut ist auch die enge Verzahnung mit den anderen Firmen. Das ist gerade in der Anfangsphase eines Unternehmens ein wichtiger Faktor, um gegenseitig Erfahrungen auszutauschen. Wichtig ist aber nicht, das Gründerzentrum schnell zu füllen, sondern die besten Start-ups anzuziehen und „auszubrüten“.
Wiegelmann: Der wichtigste Faktor ist, dass man Gründer und Gründungswillige an die Hand nimmt und ihnen das berechtigte Gefühl gibt, dass alle wichtigen Parameter, die um sie herum existieren, gemeinsam mit ihnen abgedeckt sind, sei es das Finanzamt oder die Technologietransferstelle. So kann sich der Gründer zunächst auf die Entwicklung und Vermarktung seiner Innovation konzentrieren und nicht auf das, was um ihn herum passiert.
Fuchs: Aus meiner Sicht besteht auch keine Notwendigkeit, sich in Inkubatoren ausgiebig mit dem Thema Technologietransfer zu beschäftigen. Diese Unterstützung kann man sich in der Regel schon an den Hochschulen oder im Rahmen des EXIST-Programms einholen. Darüber hinaus sollte der Inkubator Plattformen bieten, die besten Partner für den Technologietransfer zu finden – sei es durch Kontaktlisten, durch Vermittlung, durch Matchings oder durch Netzwerkveranstaltungen. Sobald ein Gründerteam in den Inkubator geht, muss es schnell nach vorne agieren.
Herrscht in der Göttinger Wissenschaftswelt genügend Aufbruchstimmung, um eine Idee in die Kommerzialisierung zu bringen?
Brück: Aus meiner Sicht gibt es im Moment noch zu wenig Raum zum Ausprobieren. Beispielsweise sind EXIST-Fördergelder in der Universitätsmedizin stark unterrepräsentiert. Dort zählen Publikationen oder Drittmittel wie z.B. Sonderforschungsbereiche immer noch mehr. Hier versuchen wir gerade, ein neues Bewusstsein zu schaffen. Inzwischen haben wir einige Projekte auf den Weg gebracht. Letztlich braucht es Erfolgsgeschichten. Das Ausprobieren muss aber schon an den Universitäten und Kliniken stattfinden, die dafür den nötigen Freiraum benötigen. Ein Inkubator wie die Life Science Factory ist kein Ort zum Ausprobieren. Leider sind wir mit einer zu kurz gedachten Politik konfrontiert, wenn beispielsweise das niedersächsische Wirtschaftsministerium 25 Mio. EUR für einen Hightech-Inkubator-Wettbewerb zur Verfügung stellt mit der Auflage, dieses Geld bis Ende nächsten Jahres auszugeben. Besser wäre es gewesen, dieses Geld ohne Frist zur Verfügung zu stellen. Es braucht auch ein flexibles System, dass etwa Professoren zu 90% in ihr Unternehmen gehen und nur zu 10% in die Universität. Als Stiftungsuniversität ist Göttingen im Vergleich zu staatlichen Universitäten sicher im Vorteil, aber generell hat unser System diese Flexibilität noch nicht.
Ist ein Gründerzentrum sinnvoll, wenn man den Raum zum Ausbrechen nicht hat?
Reimer: Man muss unterscheiden. Es gibt das Gründungszentrum als Ort und Infrastruktur, wo Teams mit Experten vernetzt werden, was insgesamt sehr hochqualitativ angelegt ist. An diesem Ort werden konkrete Ziele verfolgt und man muss daher möglichst schnell agieren. Daneben gibt es die Programmatik, wo aus meiner Sicht durchaus der Raum besteht, sich auszuprobieren, und wo Wissenschaftler an das Thema „Gründung“ herangeführt werden können. Im Rahmen eines solchen Hackathons oder Peer-to-Peer-Programms können Wissenschaftler mit Vorbildern zusammenkommen, die bereits erfolgreich gegründet haben. So entsteht ein Ökosystem, in dem Gründungen langfristig wachsen können.
Kempa: Es gibt in Göttingen noch Nährboden, den man noch nähren darf. Gerade im Rahmen von Peer to Peer ist es für eine Gründung erwägende Forscher viel sinnvoller, sich mit anderen Forschern zu unterhalten, die bereits gegründet haben, als mit einem Uniberater aus dem EXIST-Programm. Im Mittelpunkt steht ganz klar die Wissenschaft. Und da ist es auch unsere Aufgabe, Teams in Hinsicht auf deren Designs zu validieren. Wir können nicht darauf warten, dass fertige Teams zu uns kommen, um validiert zu werden – wir müssen selbst suchen, Gruppen zusammensetzen und auch die Beziehung zu Investoren herstellen. Die passenden Partner auf demselben Niveau müssen nicht immer aus demselben Ökosystem kommen. Dieses Konzept versuchen wir nun in Göttingen umzusetzen. Es ist sehr viel kollaborative Arbeit. Unternehmen und Politik sind involviert und es ist ein stetiges Lernen. Dabei schauen wir auch auf andere Ökosysteme, auch international. Beispielsweise spielen ab einer gewissen Finanzierungsgröße zunehmend auch Investoren aus dem asiatischen Raum eine wichtige Rolle. Fakt ist: Es gibt kein Patentrezept für die Installation eines erfolgreichen Start-up-Ökosystems. Es ist nicht so, dass nur ein bestimmter Schalter umzulegen ist und dann alles andere automatisch funktioniert.
Die Fähigkeiten des Techtransfers in Deutschland werden immer wieder diskutiert. Ist er in Göttingen ausreichend aufgestellt?
Brück: Das Beispiel Göttingen hat ja gezeigt, dass es kontraproduktiv ist, zu viele Zuständigkeiten auf zu viele Stellen zu verteilen, von denen jede einzelne ein eigenes Interesse verfolgt. Mit dem Life Science Valley wollen wir diese Zuständigkeiten nun bündeln. Wir müssen verhindern, dass eine „Technologietransfer GmbH“ entsteht, die zum Ziel hat, sich durch hohe Lizenzgebühren zu finanzieren. Im Gegenteil: Wir müssen ein niederschwelliges Angebot für Wissenschaftler schaffen, denn hohe Lizenzgebühren verhindern häufig den notwendigen nächsten Schritt. Das Life Science Valley soll eine gemeinsame Richtung vorgeben.
Führt der HTGF ein eigenes Screening durch, um Gründungswillige und Gründer rechtzeitig zu identifizieren?
Vlachou: Der High-Tech Gründerfonds hat inzwischen ein gutes Standing, sodass viele Gründer und Gründungswillige auch proaktiv auf uns zukommen. Aber das sind natürlich die Früchte der vorherigen Arbeit. Wir sind sehr nahe dran an und stehen im regelmäßigen Austausch mit Forschungsinstituten, Gründungszentren, Translationsstellen und Gründungswilligen. Wir betreiben Active Sourcing. Auch bieten wir Gründern und Gründungswilligen mit Veranstaltungen und Workshops die Möglichkeit, mit uns in den Austausch zu gehen, und Informationen zu einem breiten Themenspektrum rund um „Gründen“ und „Finanzierung“. Natürlich sind unsere Partner vor Ort auch wichtig für unsere Arbeit. Es ist wichtig, dass die Translation einfach, reibungslos und strukturiert erfolgt – denn das Erfundene muss in die Anwendbarkeit und Kommerzialisierung überführt werden. Auch das braucht seine Zeit, weswegen Patente eine Laufzeit von 20 Jahren haben.
Trotzdem möchte ich fragen: Warum gibt es nicht die Patentlösung für erfolgreiche Biotechgründungen und die Kommerzialisierung von wissenschaftlichen Ideen?
Fuchs: Weil diese Projekte im Idealfall disruptiv sind. Für hochinnovative, disruptive Projekte gibt es keine Standardlösung. Herausragende Projekte müssen ihren eigenen Weg finden, und der ist manchmal extrem schwer.
Kempa: Ebenfalls schwer ist es, an deutschen Universitäten Patente herauszuverhandeln. Gegenüber den Hochschulen haben Start-ups kaum Argumente. Das ist einer meiner größten Wünsche, dass man hier eine Standardlösung schafft, die man auf einer Seite zusammenschreiben kann. Wenn gewisse Dinge nicht geregelt sind, ist es einfach schwierig, Partner oder Investoren zu finden.
Vlachou: Gründerfreundliche Strukturen sind wichtig. Es sollte verhindert werden, dass eine Hochschule beispielsweise jährliche Lizenzgebühren verlangt oder Rückflüsse aus Finanzierungsrunden. Das funktioniert leider nicht, denn ein Investor finanziert immer nach vorne.
Diehl: Ich glaube, ein Grund für diese Misere liegt darin, dass Technologietransfer in Deutschland unter der Prämisse installiert wurde, dass Universitäten oder Forschungseinrichtungen damit Geld verdienen können. Stattdessen muss sich der Gedanke durchsetzen, dass mit öffentlich geförderter Forschung ein gesellschaftlicher Mehrwert erzielt werden sollte. Das muss nicht immer kommerziell sein, das kann auch eine kulturelle oder soziale Innovation sein – aber es muss begriffen werden, dass diese Innovationen dazu beitragen, das Leben für Menschen, Tiere und den Planeten insgesamt besser zu machen.
Sind im Hinblick auf den Technologietransfer die falschen Erfolgskriterien definiert? Und wie müssen diese richtigerweise lauten?
Wiegelmann: Das größte Problem ist, über eine einzelne Legislaturperiode hinauszuschauen. Innovationen benötigen Eigenkapital, welches sich nicht in Legislaturperioden messen lässt, sondern einfach mitläuft, um zu einem wirtschaftlich sinnvollen Zeitpunkt realisiert zu werden. Zugleich sollen die damit verbundenen Gesellschafterrechte nicht zu administrativen Blockaden und entsprechend ausgelegt werden.
Universitäten haben sich Transferstellen als GmbHs, also als professionelles Werkzeug, dazu geholt – verkomplizieren es diese Strukturen nicht automatisch?
Brück: Diese Technologietransferstellen sind ein Produkt des WIPANO-Programms des Bundeswirtschaftsministeriums. Damit sollten Patentfreigaben für die Universitäten zu einem lukrativen Geschäft werden. Die Umstrukturierungen, die wir derzeit vornehmen, sollen Patentfreigaben und Ausgründungen einerseits vereinfachen; andererseits können die Transferstellen und damit die Hochschulen dadurch natürlich auch weniger Einnahmen erzielen. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass die Intention, durch Patentfreigaben Einnahmen zu erzielen, nicht auf dem Boden der Universitäten gewachsen ist, sondern von der Politik vorausgesetzt wird. Hier werden Patentfreigaben als Ersatzfinanzierungen für die Hochschulen gesehen. Aber das ist der falsche Ansatz.
Verglichen mit anderen etablierten Start-up-Ökosystemen: Wohin könnte sich Göttingen orientieren, um ein erfolgreiches Ökosystem zu werden?
Fuchs: Heidelberg verfolgt einen spannenden Ansatz mit seiner Öffnung in Richtung der USA. Auch der German Accelerator kann hier als Vorbild dienen.
Kempa: Ein klassisches Beispiel für mich ist LabCentral in Boston, weil die Einrichtung über einen eigenen Fonds verfügt – und Kapital benötigen Start-ups nun einmal definitiv.
Brück: Der Brightlands Maastricht Health Campus, mit dem wir einen Kooperationsvertrag abgeschlossen haben, hat uns sehr beeindruckt. Hier haben Start-ups einen zentralen Ansprechpartner für alle Komponenten des Gründungsprozesses. Hier hat auch die Region Limburg einen großen Input geliefert. Etwas Vergleichbares hat die niedersächsische Politik nicht geleistet.
Gruber: Ich habe am Uniklinikum der Universität Amsterdam gearbeitet und war begeistert von der internationalen Kooperation, beispielsweise mit der Rockefeller University oder der Universität Singapur. Gleichzeitig wurden, neben der Forschungsarbeit, Gründungskonzepte verfolgt. Es gab stetige Wechsel zwischen den Forschungseinrichtungen und am Campus ansässigen Unternehmen, ein ständiges Kommen und Gehen.
Diehl: Vielleicht wäre generell eine Prise Anarchie ratsam. Es herrscht eine Denkweise vor, möglichst regelkonform zu agieren. Aber Regeln haben zuweilen auch Spielräume. Man sollte sich die Zeit nehmen, diese Spielräume kreativ auszulegen. Ich glaube schon, dass es neben der Wissenschaft auch in der Administration Menschen gibt, die einen Standort Göttingen international etablieren wollen. Diese Menschen muss man identifizieren und fragen: Kann man Regeln kreativ auslegen?
Wo steht der Life-Sciences-Standort Göttingen in fünf Jahren?
Diehl: Ich wünsche mir, dass sich Vertreter aus der Gründerszene, aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung regelmäßig zusammensetzen und frei von Egos sinnvoll darüber diskutieren, was es braucht, um Start-ups erfolgreich am Standort anzusiedeln. Ein regelmäßiger Dialog: Was brauchen Start-ups? Welche Ressourcen werden benötigt?
Gruber: Es ist wichtig, dass wir die Gründung von Start-ups in Göttingen unterstützen. In fünf Jahren wird es dann ebenso wichtig sein, die Grown-ups in Göttingen zu halten. Es ist wünschenswert, dass der Standort irgendwann so attraktiv ist, dass Start-ups nicht weiterziehen müssen nach München, Amsterdam oder Boston.
Meine Damen, meine Herren, wir danken Ihnen für diese anregende Diskussion.
Der Roundtable wurde moderiert von Dr. Georg Kääb und Holger Garbs.
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